Über das Morgen hinaus – Der Vorlass

Der in der Nähe von Paris lebende Schriftsteller Peter Handke (geb. 1942 in Kärnten)  hat im Alter von 65 Jahren, seinen umfangreichen Vorlassbestand  an die Österreichische Nationalbibliothek verkauft. Auf Handkeonline [1], einer öffentlichen Forschungsplattformkann jeder seit unkompliziert und schnell auf Werkfassungen, Notizbücher, zahlreiche Abbildungen, sogar auf Handkes Wanderkarten mit eingezeichneten Routen zugreifen. Beispielhaft ist bei Handkes Vorlass die Vernetzung:  Bestände aus verschiedenen öffentlichen Archiven und privaten Sammlungen werden auf dem Portal verzeichnet. Sie werden sogar aufeinander bezogen und inhaltlich beschrieben.

Die Schriftstellerin Susan Sonntag, 1933 in New York  geboren und dort 2004 verstorben, verkaufte zu Lebzeiten ihre Bibliothek an die Bibliothek der University of California. Nichtsdestotrotz stand ihr Sohn David Rieff nach ihrem Tod vor der Entscheidung, was mit ihren Tagebüchern [2]  geschehen solle. Sonntag hatte sich bis zum Schluß nicht dazu geäußert.

Haben meine Kunstwerke Ewigkeitswert? Diese Frage stellen sich viele Künstler und Sammler. Auch wenn die Wenigsten an die Ewigkeit glauben, verfolgen sie dennoch dieses Ideal. Albrecht Dürer gab 500 Jahre Garantie auf sein Werk, die in den nächsten Jahren ablaufen dürfte. Heute kann man eine noch höhere Garantie für viele Werke abgeben, nämlich für die Werke, die nicht wie damals auf Holz, sondern auf Leinwand und auf säurefreiem Papier gefertigt werden. Im Falle des kürzlich verstorbenen deutschen Filmemachers Harun Farocki (1944–2014 )sähen die Garantieleistung anders aus. Die meisten seiner Werke basieren auf digitale Medien und er hinterlässt zudem eine Filmproduktionsfirma.  Es gelten hier nicht nur bezüglich des Archivierungsaufwands andere Maßstäbe.

Der wesentliche Vorteil eines Vorlasses ist, dass der lebende Künstler es in der Hand hat, was veröffentlicht wird, welche Arbeiten als erhaltenswert erachtet werden und welche nicht. Zu Lebzeiten ein Werkverzeichnis anzulegen, ist deshalb zu empfehlen. Ein vom Urheber autorisiertes Werk ist weit weniger der Gefahr der späteren Kontext- und Werteverschiebung ausgesetzt. Die Autonomie des Künstlers arbeitet an diesem Punkt auch möglichen Kontrollverlusten über die Deutungshoheit der Werke entgegen. Die Mitsprache des Künstlers ist ein weiterer wichtiger Punkt bei der Vorlassgestaltung. So kann dieser, bei Bedarf, jederzeit angesprochen werden: in der aktuellen Forschungsarbeit, in der Vermittlungsarbeit, in Projekten, Tagungen und Veranstaltungen, Ausstellungen und bei der Herausgabe von Publikationen und nicht zuletzt bei der Erstellung eines Werkverzeichnisses.

Ein weitererVorteil ist die Entlastung Angehöriger bei der Regelung des Vorlasses. Aus Privatsammlungen, sagt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in einem Interview, werde im Erbfall nach wie vor ganz häufig,nicht nach einer Generation, sondern nach zwei oder drei Generationen, vieles weggeschmissen. Es sei dann oft nicht mehr klar, was das Werk einmal gekostet hat und welche Bedeutung es einmal besessen haben mag. Mit dem Vorlass ist jedoch auch eine Abnabelung verbunden. Der Künstler oder Kunstsammler entlässt sein Werk beziehungsweise seine Sammlung aus der eigenen Verantwortung. Es wird von diesem Zeitpunkt an von anderen betreut und ist gegebenenfalls der Öffentlichkeit als Gesamtwerk zugänglich.

Drei Schritte der Vorlassgestaltung

Erstens: das Sichten. Eine Bilanz oder Bestandsaufnahme, bestenfalls in einem Werkverzeichnis. Die Frage, was in den Vorlass eingebunden werden soll, zum Beispiel die Werke,dieSammlung, dasArchiv, derSchriftnachlass, Immobilien.

Zweitens: das Verbleiben der Werke.Verkauf, fachgerechte Erfassung, Pflege, Aufbewahrung, Forschung. Soll das Werk oder eine Sammlung ein Kulturgut mit Öffentlichkeitscharakter sein oder eher eine Kapitalanlage darstellen? Wie soll die zukünftige konservatorische und betreuende Leistung bezahlt werden, möglicherweise mit Stiftungsgeld, dem Verkauf oder der Schenkung einzelner Werke? Verschiedene Modelle der Weitergabe von Kunstwerken und Sammlungen müssen geprüft und Kooperationspartner gefunden werden, zum Beispiel Privatpersonen, Archive, Museen, öffentliche Institutionen, Vereine und Stiftungen.

Drittens: das Umsetzen in die passende Rechtsform. Mit einer vertraglichen Vereinbarung, sei es Erbvertrag, Testa- ment, selbstständige oder unselbstständige Stiftung oder andere vertragliche Vereinbarungen, zum Beispiel Dauerleihgaben, Schenkungen, Teil-Vorlässe, Zustiftungen oder eine Kombination aus mehreren Varianten, kann man zu Lebzeiten dem Werk eine zusätzliche Bedeutung beimessen, wichtige Weichen stellen und Mehrwert erlangen.

Alle Vorlass-Modelle müssen eine klare Zielsetzung haben. ImVorfeld sind umfassende Überlegungen zu tätigen und kreative Handlungsspielräume auszuloten. Die »eine, richtige« Lösung für eine Vorlassgestaltung gibt es nicht. Jeder Vorlass ist einzeln zu bewerten und umzusetzen. Gerade deshalb sind Vorlassgestaltungen mit neuen Kooperationen gefragt, insbesondere zwischen Künstlern, Kunstsammlern und öffentlichen Stellen, vieles ist noch nicht ausgeschöpft. Angesichts dieser Möglichkeiten wäre eine ausschließlich erlösoptimierte Abwicklung eines künstlerischen Œuvres beziehungsweise einer Sammlung in vielen Fällen ein beklagenswerter Verlust…

 

Auszug, Veröffentlicht unter: „Vorlass Der Nachlass zu Lebzeiten“, in: art value, Herbstausgabe, Berlin 2014.

[1]http://handkeonline.onb.ac.at/node/11(Stand: 01.09.2014).

[2]Ihr Sohn entschloss sich zu für Veröffentlichungen. Die Richtigkeit der Werke wird jedoch vereinzelt angezweifelt.  Wiedergeboren.Tagebücher 1947-1963; Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980, Carl Hanser Verlag, München 2010; 2013.

vor 6 Jahren