Wie geht es den Studierenden nach einem Jahr Pandemie?

Die Lage der Studierenden ist nach wie vor schwierig. Universitäten und Hochschulen sind seit über einem Jahr keine lebendigen Lernorte mehr. Die virtuelle Lehre führt insbesondere bei Erstsemestern oft zur Isolation. Aufgrund der Pandemie verstärken sich finanzielle und psychische Probleme der Studierenden.

Geschlossene Hochschulen und Bibliotheken
Durch die Schließung der Bibliotheken können viele Studierende dort nicht mehr an ihren Arbeitsplätzen arbeiten. In kleinen Wohnungen oder Wohngemeinschaften sind die Bedingungen für konzentriertes Arbeiten oft nicht gegeben, wobei technische Probleme im Zusammenhang mit der digitalen Lehre die Lernsituation zusätzlich erschweren. Zudem fehlt der physische Ausgleich zum Studium und die Leistungsfähigkeit der Studierenden sinkt.
Viele Nebenjobs der Studierenden sind aufgrund der Pandemie weggefallen, so dass viele Studierende neben allgemeinen Zukunftsängsten in finanzieller Sorge sind. Nicht wenige Erstsemester haben Schwierigkeiten den Faden innerhalb ihres Studiums zu finden und in Kontakt mit ihren Kommilitonen zu kommen und geben ihr Studium nach einem Semester wieder auf. Dass die Mensa geschlossen ist, ist für viele Studierende eine zusätzliche Belastung.

Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Studierenden
Zu Beginn des Sommersemesters 2021, mitte April, macht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf die Lage der Studierenden aufmerksam. Von der Gesellschaft fordert er „mehr Solidarität mit den Ausgebremsten“. Die Rede hält Steinmeier in der kürzlich renovierten historischen Staatsbibliothek in Berlin. Auf der opulenten Treppe vor ihm sitzen in großem Abstand vereinzelt einige Maske tragende Studierende, für die gerade das dritte Online-Semester beginnt. Steinmeier sagt: „Sie sitzen fest auf der Lebens- und Karrieretreppe und fragen sich, wohin sie führt“. Es sagt, dass die Gesellschaft die Situation der Studierenden, mit den geschlossenen Bibliotheken, ausgefallenen Praktika, ohne Begegnungen mit anderen und das völlige Ausgebremstsein der jungen Leute, zu wenig im Blick gehabt habe. Seine Rede ist hier nachzulesen.

Der 10 Punkte-Plan der Hochschulrektor*innen 
Die Pandemie legt aus Sicht der Hochschulrektorenkonferenz die strukturellen Defizite der Rahmenbedingungen für Lehre und Studium offen. Die Hochschulrektor*innen bitten Bund und Länder deshalb in einem 10 Punkte-Plan um Unterstützung, damit die Hochschulen die Qualität von Studium und Lehre, und deren Sicherstellung und Entwicklung, erfüllen können. In den Forderungen an die Politik geht es u.a. um eine grundlegende Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), dass von nur 11 % der 2,9 Millionen Studierenden (Stand WS 2019/20) bezogen wird. Es geht um verstärkte Investitionen in Wohnheime inklusive derer Internetzugänge und um die Forderung nach Umbau und der Ausfinanzierung von Studiengängen, wie beispielsweise in den Gesundheitswissenschaften, der Lehrer*innenbildung und der Psychotherapie. Außerdem fordert die Hochschulrektorenkonferenz Bund und Länder dazu auf, den Investitionsstau beim Hochschulbau zu lösen. Er würde im Jahr 2025 bei 35 Milliarden Euro liegen. Der 10 Punkte-Plan ist hier zu finden.

Der Wunsch nach neuen Formaten der Präsenzlehre
In der Öffentlichkeit und Politik haben Hochschulen in Bezug auf Öffnungsdebatten kaum eine Rolle gespielt. Im letzten Jahr erschienen einige offene Brief der Studierendenschaft, Professor*innen und Dozent*innen verschiedener Hochschulen mit dem Wunsch der schrittweisen Rückkehr zur Präsenzlehre, die eine Grundlage universitären Lebens sei. Flächendeckende möglichst einheitliche Konzepte, wie in den Bereichen Schule und Gastronomie, fehlen jedoch bisher.
Die Initiative Präsenzlehre von Berliner Student*innen und Dozent*innen formuliert in einem offenen Brief: „Gerade für Studienanfänger*innen ist ein weiteres rein digitales Semester nicht zumutbar. Mit mindestens drei Semestern im Home Office sehen wir den gesellschaftlichen Bildungsauftrag der Hochschulen gefährdet. Denn wer ausschließlich online studiert, hat nicht wirklich studiert.“ Präsenzlehre könne in kleinen Seminaren, Tutorien und Colloquien mit den vom RKI empfohlenen Hygienemaßnahmen, die verpflichtend umgesetzt werden müssen, stattfinden. Vorlesungsräume mit zeitgemäßer Ausstattung müssten her; mit der Technik zur möglichen simultanen digitalen Teilnahme und auch die Fenster in den Räumen sollten natürlich zu öffnen sein. Es wird der Wunsch geäußert, dass Seminarräume wiederum als Arbeitsräume zur Verfügung gestellt werden sollten und es wird auf die wärmere Jahreszeit verwiesen: „Das Sommersemester bietet außerdem die Möglichkeit, für kleine Kurse auch die Außenräume zu nutzen.“

Allerdings ist sich die Studierendenschaft nicht einig in den Forderungen nach mehr Präsenzlehre. Viele Studierende betrachten es als einen wichtigen Beitrag, den sie momentan zur gesellschaftlichen Situation leisten können, sich mit den Online-Angeboten der Universitäten so gut wie möglich zu arrangieren und auf persönliche Kontakte weitgehend zu verzichten. So hat sich der AStA der TU Berlin in einem Statement gegen Forderungen nach mehr Präsenzlehre ausgesprochen.

Die Studentin Antonia Weberling hat ihrer Kampagne „Rescue Horizon Europa“ eine breite Solidarität für die Studierenden in Europa hergestellt. In dem Bildungspodcast „Gipfel der Bildung von Patrick Honecker und Jan-Martin Wiarda stellt die Doktorandin ihre Studiumsumstände und die Situation der Studierenden dar und erläutert, wie sie mehr als 2000 Wissenschaftler*innen, darunter ein Dutzend Nobelpreisträger*innen mobilisiert hat.

Die Belastungen sind für Studierende nach wie vor hoch, die Vereinsamung der Studierenden wächst, die Universitätscampus liegen in einem Dornröschenschlaf: Es findet hier keine Wissensvermittlung und kein soziales Leben statt, es werden hier keine Bekanntschaften gemacht und Freundschaften geschlossen.
Walter Steinmeier versucht den Studierenden Mut zu machen indem er sagt: „Deshalb bin ich überzeugt, gerade wegen der Erfahrungen, der guten wie der schlechten, die Sie in der Pandemie gemacht haben: Die Treppe ihres Lebens wird eine andere sein, als Sie erwartet haben. Aber hinaufstürmen werden Sie sie in jedem Fall!“ Die Doppeldeutigkeit seiner Worte spiegelt die Besorgnis der Studierenden vor der Zukunft.

Der Artikel wurde am 7. Mai 2021 auf der Webseite der Deutschen Mathematiker-Vereinigung www.mathematik.de veröffentlicht.

Text und Foto: B. Klompmaker

vor 4 Jahren